Du wachst irgendwann morgens auf und merkst plötzlich, dass dein Leben in so geordneten Bahnen verläuft, wie du es dir nicht einmal in deinen schlimmsten Alpträumen als Jugendlicher vorgestellt hättest. Und das Allerschlimmste daran ist, dass du den Weg, den du vor vielen Jahren eingeschlagen hast, nicht mehr hinterfragst, sondern stupide weitergehst, und zwar in der Gewissheit, dass es keine großen Veränderungen und damit keinen „Plan B“ mehr für dich geben wird. In der Jugend hattest du tausend Ideen, ließt dich inspirieren, warst experimentierfreudig und suchtest stets nach Alternativen und neuen Wegen, doch heute suchst du nur nach der Sicherheit in unsicheren Zeiten.

Soll das alles gewesen sein?“, fragst du dich und weißt, dass nur du diese Frage beantworten kannst. Solche oder so ähnliche Gedanken haben mit Sicherheit viele Menschen meiner Generation in diesen stürmischen Tagen. Bestimmt auch die Jungs von „Massendefekt“, die allerdings auf ihrem Album „Lass die Hunde warten“ (Album-VÖ: 26.01.24) den Mut haben, einen Schritt zurück zu ihrem Bandursprung zu wagen und sich dadurch neu zu erfinden.

Zu ihrem Plan B gehört ebenso, dass die Produktion komplett wieder wie früher im DIY-Verfahren durchgeführt wurde. Dadurch gewinnt der Sound der neuen Songs an Authentizität, Raue und Schärfe und erinnert an die kraftvollen Songs früherer Zeiten.

Inhaltlich behandelt die Band Themen, die den Mitgliedern persönlich am Herzen liegen. Und auch wenn in einigen Liedern von Trauer, Trennung und Schmerz berichtet wird, setzt Massendefekt die Segel in Richtung positiv-besetzter Zukunft.

Im Interview mit dem Pressure-Redakteur Sveni erzählt Bandmitglied Nico, warum er Musiker und kein Profifußballer geworden ist und weshalb das „Schwarze Gold“ (=Vinyl) für Freiheit und Muße seines Geistes und seiner Gedanken sorgt.

Pressure: Hattest du als junger Mensch einen Plan B, Fußballer zu werden, wenn es als Musiker bei Massendefekt nicht geklappt hätte?

Nico: Wer mich schon einmal Fußball spielen gesehen hat, weiß, dass ich ganz klar schon immer der bessere Musiker gewesen bin. Warum fragst du?

Pressure: Ich habe im Jahr 2004 gemeinsam mit dem Planlos-Fanteam gegen die Mannschaft von Massendefekt im Rahmen des „Planlos-Festivals“ in Grevenbroich Fußball gespielt und, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, sogar im Finale besiegt. Das war übrigens meine erste bewusste Begegnung mit der Band, die mich damals während des anschließenden Konzerts mehr als durch ihr fußballerisches Talent begeistern konnte.

Nico: Ja, ich erinnere mich noch dunkel daran, auch wenn ich damals noch nicht in der Band spielte, sondern als Fan dabei gewesen bin. Und ich meine mich zu erinnern, dass die Fußball-Skills der Band damals relativ begrenzt waren.

Pressure: Dann hatten unsere Mannschaften doch etwas Gemeinsames, denn auch das Planlos-Fanteam lief völlig untrainiert und unvorbereitet auf. Immerhin gab es glücklicherweise noch viel schlechtere Mannschaften, beispielsweise die von „Dimple Minds. Die Jungs hatten bzw. haben ihre Stärke eben auch auf anderen Gebieten…

Nico (lacht): Das kann man durchaus so sehen.

Pressure: Doch nun zu Eurem neuen Album „Lass die Hunde warten“. Ist der Focustrack „Disko“ der Beginn des konzeptionellen „roten Fadens“- quasi der Master-Song- des neues Albums?

Nico: Sebi hat sich besonders für „Disko“ eingesetzt und großen Gefallen an der eingängigen Melodie des Songs gefunden und uns dazu animiert, verschiedene musikalische Varianten auszuprobieren.
Ohne ihn hätten wir das Lied möglicherweise einfach „liegen gelassen“. Als es dann um das Video ging, wollten wir unbedingt eine Disko-Szene aufsetzen und mit vielen Menschen Tanzszenen aufnehmen, die möglichst bunt und grell sein sollten. Und so ist vom Ballett, über das BMX-Rad bis zum Breakdance alles an Vielfalt im Video vertreten. Glücklicherweise erfuhren wir bei den Dreharbeiten Unterstützung von der befreundeten Band „Porno Al Forno“, die uns mit Kostümen und gekonnten Tanz-Moves aushalfen. Die Aussage von „Disko“ sollte lauten, dass es uns egal ist, ob und wie du tanzt, Hauptsache ist, dass du dich beim Tanzen (oder eben bei dem, was du machst) wohlfühlst!

Pressure: Und gibt es auch eine weitere Bedeutung, dass es beispielsweise doch mehr gibt, als zu tanzen?

Nico: Natürlich ist Disko nicht der Aufruf, nur zu tanzen oder nur Playstation zu spielen. Es gibt mehr wichtige Dinge im Leben, das ist vollkommen klar, alles andere wäre gelogen und würde uns unglaubwürdig machen. Wer Kinder hat, weiß, dass sie ein gutes Gespür dafür haben, wenn man von ihnen so genannte „wichtige“ Dinge verlangt, die man selbst nicht bereit ist auszuführen.

Doch zurück zu deiner Ausgangsfrage, ob der Song ein Master-Song des neuen Albums ist. Das würde ich verneinen, da für mich diese Aussage eher auf den Song „Nicht ok“ zutrifft. Es passiert gerade so viel Mist auf dieser Welt und da ist es vollkommen ok, dass du dir darüber Gedanken machst und mal schlecht drauf bist. Und der Songtext beinhaltet gleichzeitig eben die frohe Botschaft, dass jemand bei einem ist und man gemeinsam diese schwere Phase durchsteht und gestärkt aus ihr hervorgeht.

Pressure: Wenn Ihr mal von dem Alltagswahnsinn abschalten wollt, wie im Lied „Tag am Meer“ beschrieben, wohin flieht ihr dann? Hast du einen persönlichen Lieblingsplatz, um zu dir zu kommen?

Nico: Wenn wir wirklich für einen Tag am Meer sein wollen, dann fahren wir von Düsseldorf Richtung Holland. Nach etwa 50 Kilometern passierst du die Grenze und der Urlaub beginnt. Sebi hat sich übrigens einen Camper gekauft und unternimmt mit seiner Familie immer mal wieder spontan Kurzurlaube an die niederländische Küste.

Für mich persönlich ist eine Auszeit nicht zwingend mit einem Ort verknüpft, sondern mit der Zeit, die ich mir eben für mich nehme. In dieser Auszeit muss ein Prozess in mir drin stattfinden. Und je älter ich werde, desto mehr merke ich, dass ich diese freie Zeit brauche. Dann lese ich bewusst mal wieder ein Buch oder ich höre seit einigen Jahren Vinyl. Bereits beim Aufsetzen der Nadel spüre ich die Entschleunigung in meinem Körper und Geist, verursacht allein durch dieses analoge Medium. Beim Hören begutachte ich wie in alten Zeiten das Cover nach allen Details. Herrlich. Generell denke ich, dass wir alle Zufluchtsorte und Auszeiten brauchen, mal mehr und mal weniger!

Pressure: Frei nach dem Motto „Weniger ist mehr“. Funktioniert dieses Motto auch für euch als Band?

Nico: Als Band brauchst du natürlich eine Strategie oder einen Plan, den du verfolgst, ungeachtet der externen Faktoren, die das manchmal erschweren. Dennoch braucht jeder von uns, auch wir als Massendefekt, Tage, an denen mal nichts ansteht. Wenn es bei mir persönlich freie Tage gibt, an denen kein Eintrag im Kalender steht, dann überrascht mich das immer wieder, aber positiv. Warum, frage ich mich, gestehen wir es uns nicht öfter zu, einfach planlos zu sein und in den Tag hinein zu leben? Stattdessen sind wir eifrig bestrebt, immer das nächst Bessere, Höhere und Weitere zu erreichen…

Pressure: Also so zu sein, wie Zugvögel, die ihr im gleichnamigen Song beschreibt?

Nico: Nicht zwingend, denn in diesem Lied geht es eher um das Rastlose in uns allen, gepaart mit einer jugendlichen Unbekümmertheit, die wir uns als Bandmitglieder bewahren wollen. Passend dazu fällt mir spontan die Textpassage „Für verpasste Chancen bin ich zu alt“ ein. Es ist für mich absolut ok, wenn jemand sein Ding macht, solange er nicht erwartet, dass ich ihm oder ihr folge oder nachahme. Dafür ist mir meine Lebenszeit zu schade.

Pressure: Wie viel vom individualistischen Einzelgänger, der in „Solitär“ beschrieben wird, steckt (noch) in dir?

Nico: Es geht in dem Song um eben einen solchen Einzelgänger, der abseits des sozialen Lebens Dialoge mit sich selbst führt und er dafür von seinen „Geistern im Kopf“ Applaus bekommt. Ein besonderer Mensch, autark, dafür ein sozialer Außenseiter. Und deswegen glaube ich, dass ich nicht so viel mit ihm gemeinsam habe.

Pressure: Ein Solitär, besonders und dennoch so einsam wie in Gestalt des „einzeln gefassten Brillanten“ oder eines (außerhalb des Waldes) stehender Baum. Um soziale Bindungen geht es in „Pferdekotzen“. Welchen tieferen Sinn hat dieses eindrucksvolle und nachhaltige Bild des sich erbrechenden Huftieres für den Inhalt des Liedes?

Nico: Das Bild soll vor allem Aufmerksamkeit erzeugen. Inhaltlich geht es weniger um kotzende Pferde, sondern darum, dass man im Leben eben niemals nie sagen soll. Stell dir einfach folgende Situation vor: Du denkst bei einem Song an eine Begegnung oder eine Freundschaft aus deiner Jugend und verspürst plötzlich den Wunsch, genau jetzt diese Person zu treffen und mit ihr was zu trinken und Zeit zu verbringen. Und hey, es ist egal, was dazu führte, dass ihr jahrelang keinen Kontakt mehr hattet. Es zählt der Moment, des Hier und Jetzt, der alles möglich macht. In der Fantasie und manchmal sogar in der Realität.

Massendefekt | Sommerregen (offizielles Video)

Pressure: Die Frage ist für mich, ob der exklusive- weil intime- Moment im Zeitalter von Influencern und den sozialen Medien noch überhaupt einen Stellenwert besitzt? Hier passt meines Erachtens ein kurzer Verweis auf den Song „Sommerregen“, der sich ebenfalls mit diesem Thema auseinandersetzt. Übrigens wurde bei dessen filmischer Umsetzung auf einen hohen ästhetischen Anspruch Wert gelegt. Der „Film“ ist bereits die vierte Musikvideoauskopplung des neuen Albums und erreichte kurz nach Erscheinen bereits fünfstellige Klickzahlen. Genau wie der Newsletter der Band sowie die Präsenz auf anderen digitalen Plattformen erreichen die digitalen Auftritte von Massendefekt mittlerweile ein professionelles Niveau. Habt ihr, wie die großen Bands, einen Social-Media-Beauftragten?

Nico: Du sprichst gerade mit ihm. Ehrlicherweise teilen Sebi, unser Manager Flo und ich die Arbeit auf, um präsent zu sein und natürlich um Einfluss auf die digitalen Kanäle zu nehmen, die wir selbst beeinflussen können. Das ist unfassbar wichtig geworden, mit den Fans auf diese Weise zu kommunizieren und auf sich aufmerksam zu machen. Durch die Algorithmen wird das Ganze zwar zu einer halben Wissenschaft und verursacht, gerade in dieser Phase der Veröffentlichung des neuen Albums, puren Stress bei mir.

Pressure: Welchen Stellenwert haben im Zeitalter von Instagram und Co. noch Interviews mit kleinen Fanzines, deren Reichweite durch die sozialen Medien reduziert wird?

Nico: Ich gebe dir recht und doch ich finde es wichtig und gut, weiterhin Interviews für Fanzines zu führen. Es ist unglaublich schön, sich direkt und face-to-face mit anderen Menschen auszutauschen und ihre Meinungen und Eindrücke zu unseren neuen Songs kennenzulernen. Das gibt uns eine schnelle Rückmeldung, wie unsere Songs interpretiert werden und kann bestenfalls dazu führen, dass wir uns als Band weiterentwickeln können.

Pressure: Das ist eine schöne Botschaft, die hoffentlich von vielen Leserinnen und Lesern des „Pressure-Magazines“ wahrgenommen wird.

Das Interview führte Sveni für Pressure Magazine im Januar 2024

Lass die Hunde warten“ ist das neunte Studio-Album von Massendefekt. Nach dem Einstieg des neuen Gitarristen Nico Jansen und dem ersten gemeinsam entwickelten Album „Zurück Ins Licht“ präsentieren sich MASSENDEFEKT sicherlich auch über die anschließenden, zahlreichen gemeinsamen Konzerte auf ihrem kommenden Album als toll eingespieltes Team und liefern durchgehend mit hörbarem Spaß an der Sache souverän ab. 

Das gerade erschienene Album „Lass Die Hunde Warten“ fügt sich schon aufgrund der auffallend schönen Dichte an rockigen Ohrwürmern ein in die erste Reihe der hauseigenen Diskographie, und die neuen Singles machen unmittelbar Lust auf die anstehende Konzertreise des Quartetts.

LASS DIE HUNDE WARTEN – TOUR 2024

Sa, 26.01.24: Essen – Don´t Panic (Exklusive Record-Release Show) 

Fr, 16.02.24: Frankfurt / Main, Batschkapp 

Sa, 17.02.24: Stuttgart, Im Wizemann  

Sa, 24.02.24: Köln, Kantine  

Fr, 01.03.24: Nürnberg, Hirsch  

Sa, 02.03.24: Dresden, Chemiefabrik  

Fr, 15.03.24: Bremen, Kulturzentrum Schlachthof  

Sa, 16.03.24: Münster, Sputnikhalle Münster  

Fr, 03.05.24: Hamburg, Markthalle – Großer Saal  

Sa, 04.05.24: Berlin, SO36  

Fr, 10.05.24: Hannover, MusikZentrum  

Sa, 11.05.24: Leipzig, Conne Island

Sa, 21.12.24: Düsseldorf – Stahlwerk (Heimspiel)

Massendefekt – „Lass die Hunde warten“ (Album-VÖ: 26.01.24)

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Massendefekt - Lass die Hunde warten von Massendefekt - LP (Standard) Bildquelle: EMP.de / Massendefekt
Massendefekt – Lass die Hunde warten von Massendefekt – LP (Standard) Bildquelle: EMP.de / Massendefekt

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