Die Jugendlichen müssen endlich wieder die Freiräume bekommen, die sie vor der Pandemie hatten! Der Jugendforscher Klaus Farin im Pressure-Interview über die Auswirkungen der Corona-Pandemie.
Zu Beginn eine hypothetische Frage: Was meinst du, wie der Jugendliche Klaus Farin auf die Freiheitsbeschränkungen reagiert hätte?
Klaus Farin: Keine Ahnung. Machen können hätte ich eh nichts dagegen. Ich hätte auch 2020/21 gegen zahlreiche freiheitsbeschränkenden Maßnahmen gestimmt, wenn man mich gefragt hätte. Ich erinnere mich noch an die Absurditäten des ersten Lockdowns: In Berlin durfte man zwar im Park joggen, sich aber nicht für eine Pause auf die Parkbank setzen. Viele Locations, kleine Läden bzw. deren Besitzer wurden ruiniert. Erst ruiniert die Politik, und ganz vorneweg der heutige Gesundheitsminister Lauterbach als Bertelsmann-Vorredner, das Gesundheitssystem, dann schicken sie die komplette Bevölkerung in die Isolation mit der Begründung, das Gesundheitssystem sei sonst überfordert.
In einem Artikel auf der Homepage der Bildungszentrale für politische Bildung (vgl.: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/jugend-und-protest-2021/340340/jugend-2021/) bescheinigen die Autoren, dass die Jugend viele Einschränkungen in den vergangenen Lockdowns, z.B. in Form mangelhaften Onlineunterrichts stillschweigend und geduldig ertragen hätten. Allerdings könne die Beschränkung der Freiheit, die für die Jugendlichen zum Aufbau ihrer Persönlichkeit elementar sei, der Auslöser für jugendliche Proteste werden.
Wie sieht du das? Teilst du die Einschätzung der Autoren?
K.F.: Ja, das ist zum Teil richtig, denn gerade zu Beginn der Pandemie hat der Online-Unterricht nicht wirklich gut funktioniert. Für viele Schülerinnen und Schüler war er kein Ersatz für die Schule, z.B. weil es daheim nicht genug technische Geräte gab usw. Demgegenüber waren die Schülerinnen und Schüler aus einem wohlhabenden Elternhaus von den Schulschließungen weitaus weniger benachteiligt, da sie den Unterrichtsstoff durch die entsprechenden Endgeräte daheim gut bearbeiten konnten.
Die Pandemie hat also die Bildungsungerechtigkeit hierzulande, die stark vom Einkommen der Eltern abhängig ist, wieder einmal offensichtlich gemacht.
Das ist die eine Seite, aber der fehlende bzw. verpasste Unterrichtsstoff ist aus meiner Sicht gar nicht mal das gravierendste Problem. Weitaus dramatischer ist, dass vielen Jugendlichen durch die Lockdowns viele Erfahrungen des „1. Mals“ fehlen. Also das erste Mal Alkohol zu trinken, das erste Mal jemanden zu küssen usw. Was Jugendliche in dieser Phase ab 13 Jahren eben so normalerweise machen und was für die Persönlichkeitsbildung und die eigene Entwicklung so wichtig ist. Diese nun etwa eineinhalb Jahre, in denen der Jugend von ihrer Umwelt suggeriert wurde und zum Teil immer noch suggeriert wird, dass ihre Mitmenschen potentielle Gefahren für die eigene Gesundheit seien und man deswegen Abstand halten müsse.
Für uns Erwachsene waren die Entbehrungen weitaus irrelevanter, da es für die meisten von uns nicht ganz so wichtig ist, abends unbedingt auf Partys zu gehen oder Freunde zu treffen. Für Jugendliche ist das aus den geschilderten Gründen ganz anders und erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass sie die erlebte Zeit subjektiv länger und intensiver wahrnehmen als wir Erwachsene. Daher müssen die Jugendlichen endlich wieder die Freiräume bekommen, die sie vor der Pandemie hatten!
Gab es denn in Berlin während der Lockdowns diese Freiräume?
K.F.: Wenig. Es gab im Frühjahr und Sommer viele Jugendliche, die sich in Parks und Grünanlagen getroffen haben, aber ansonsten sah es wie überall in der Republik aus. Und im Vergleich zu ländlichen, dünn besiedelten Regionen gibt es in Großstädten wie in Berlin viele Menschen, die sich an feiernden Jugendlichen, gerade in diesen Zeiten, stören und Sanktionen fordern.
Wie haben deiner Meinung nach die meisten Menschen deiner Generation auf die einschneidenden Eingriffe in ihre Grundrechte und den Wegfall der „Freiräume“ reagiert?
K.F.: Die Mehrheit der Deutschen fand die getroffenen Maßnahmen zu lasch. Auch die Mehrheit meiner Generation. Erstaunlich fand ich, dass auch Freunde mit linksliberalem Weltbild am konsequentesten die Beschränkungen der Freiheitsrechte mitgetragen haben. Viele davon, die zu zweit auf 150m² ganz entspannt die Lockdowns erlebten, zeigten keinerlei Verständnis für die Familien, die zu acht in einer Zweizimmerwohnung lebten und riesige Probleme mit den Einschränkungen hatten. Man kann diese Ignoranz auch als „Fanatismus“ bezeichnen, den es allerdings auch in anderen Teilen der Gesellschaft gibt.
Gruppen, die Fakten, also wissenschaftlich gesicherte und fundierte Erkenntnisse, nicht mehr als solche anerkennen, sondern mit ihren „alternativen Fakten“ argumentieren. Diese Entwicklung lässt keinen Spielraum für einen offenen Meinungsaustausch zu, der für eine liberale Demokratie so wichtig ist. Stattdessen gibt es jetzt Familien, durch die ein „Graben“ geht, Familien, die das Thema „Corona“ in Gesprächen möglichst vermeiden und ausklammern, um keinen Eklat zu produzieren.
Die Pandemie legt ebenfalls offen, dass zukünftig Fakten wieder als Fakten gelten müssen. “Fake News“ müssen meines Erachtens als solche bezeichnet werden und mehr in Schulen und anderen Institutionen thematisiert werden. Dafür ist eine komplette Neuausrichtung der politischen Bildung notwendig.
Denkst du, dass die gemachten Erlebnisse und Einschränkungen der Freiheitsrechte in einem jugendlichen Protest münden könnte, der sich gegen „die da oben“ richtet?
K.F.: Nein, das wiederum glaube ich nicht. Eine jugendliche Rebellion erscheint mir aus heutiger Sicht unwahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, dass die Psyche vieler Jugendlicher durch die Maßnahmen und die ständige Wiederholung in den Medien, wonach man viel Abstand zu seinen Mitmenschen einhalten solle, großen Schaden erlitten hat. Möglicherweise fehlt es dieser Generation einmal an wichtigen Kompetenzen wie der Teamfähigkeit, die in unserer Gesellschaft dringend benötigt werden.
Meine Befürchtung ist, dass der neoliberale Zeitgeist mitsamt der rücksichtslosen Ellenbogengesellschaft, die vor der Pandemie auch durch „Fridays for Future“ gerade bei jungen Menschen an Bedeutung verloren haben, verstärkt in diese Altersgruppe zurückkehren könnten.
Das Interview mit Klaus Farin führte Sven im März 2022
Über den Autor
Klaus Farin, geboren 1958 in Gelsenkirchen, lebt seit 1980 in Berlin. Nach Tätigkeiten als Schülerzeitungsredakteur und Fanzine-Macher, Konzert veranstalter und -Security, Buchhändler und Journalist ist er heute freier Autor und Vortragsreisender in Schulen und Hochschulen, Jugendklubs und Justizvollzugsanstalten, Akademien und Unternehmen. Diverse Veröffentlichungen über Skinheads, Fußballfans, Gothics und vieles Andere.
Wer sich für Bücher von Klaus Farin interessiert, der finden vielfältige Bücher zu passenden Themenen auf der Webseite seines Berliner Verlages HIRNKOST. Außerdem hat Klaus Farin bereist vor der Corona Pandemie zahlreiche Bücher über Jugendbewegungen, Subkulturen und Jugendliche geschrieben. Ebenso ist im Jahr 2018 sein Buch „Über die Jugend und andere Krankheiten“ erschienen, was wir hier als Buchtipp anregen möchten.