Thomas Niedzwetzki (Buch Autor)
Thomas Niedzwetzki (Buch Autor)

In seinem fesselnden Roman „Der Unterton“ wirft der Autor Thomas Niedzwetzki einen intensiven Blick auf das Leben und die Schicksale einer Generation, die zwischen den Brüchen und Widersprüchen der DDR-Gesellschaft gefangen war. Im folgenden Interview spricht unser Redakteur Sven Dehoust mit Niedzwetzki über die vielschichtigen Charaktere seines Werkes, die damit verbundenen gesellschaftlichen Umbrüche und die Bedeutung von Solidarität und Zivilcourage in schwierigen Zeiten. Von der Veränderung des individuellen Selbstverständnisses bis hin zu den Herausforderungen einer wiedervereinigten Gesellschaft – dieses Gespräch wirft ein Licht auf die tieferen Schichten der menschlichen Erfahrung in einer Zeit des Umbruchs.

Nachfolgend lest ihr das vollständige Interview und eine tiefere Analyse des Romans „Der Unterton“ – HIER kann das Buch bestellt werden.

Sven (Pressure): Ich finde, dass das von Ihnen verwendete sprachliche Bild, wonach es sich bei den Protagonisten Ihres Romans um eine Generation von „Gefangenen und gleichzeitig Getriebenen“ handelt, sehr gelungen, da es damals doch u. a. darum ging, mehr individuelle Freiheitsrechte, aber eben auch bessere Konsumgüter aus dem Westen zu erhalten. Musste diese Kombination aus Missständen zwangsläufig zum gesellschaftlichen Umbruch führen?

Niedzwetzki: Es war zweifellos die Kombination aus beidem. Nur allein wegen der Konsumgüter wären die Massenproteste 1989 sicher nicht so ausgeufert. Die Ohnmacht der kommunistischen Funktionäre manifestierte sich ja bereits mit dem Mauerbau 1961 und musste zwangsläufig scheitern. Aber das kann ich auch erst aus heutiger Sicht sagen. Jo, der 7 Jahre nach dem Mauerbau geboren wurde, wuchs mit dieser Realität auf. Welche Schwierigkeiten er daher mit anderen Meinungen anfangs hatte, kann man ja in den NVA-Kapiteln noch sehen.

Sven (Pressure): Hätte sich der Künstler Jo, bevor er durch die Begegnung mit Deborah mit den Verhältnissen anfängt zu hadern, weiterhin mit den Verhältnissen arrangieren können oder wäre er in seiner künstlerischen Schaffensphase irgendwann auch von selbst mit dem System angeeckt?

Niedzwetzki: Jo ist so blauäugig und gutgläubig, dass er am liebsten in seiner Nische aus Musik und Mädchen verharrt wäre. Das ist ja auch das Absurde, was ihm passiert: von allein wäre er nie zum Regimegegner geworden. An einer Stelle reflektiert er über die sich anbahnenden Veränderungen: „… ein ungleicher Kampf: Das humane Antlitz seiner Gesellschaft gegen das lächerliche Geflimmer bunter Werbung, das im Unterbewusstsein wirkte und sich Bahn brach.

Jeden Tag mehr … aber warum ließen sich die Leute auch so billig verblenden, … wo doch klar war, dass es hinter dieser bunten Fassade nur faulte und stank …“. Ich finde, das sagt viel aus. Und ich denke, um nachhaltig mit dem System anzuecken, hätte er als Künstler einen Schritt weiter gehen müssen. Letztendlich hat er sich durch das bloße Covern von Songs ja auch nicht wirklich kreativ betätigt.

Sven (Pressure): Und sein Freund Ben, zu Beginn überzeugtes SED-Mitglied, war am Ende des Romans nur noch „Getriebener“?

Niedzwetzki: Ben ist die eigentliche tragische Figur. Ausgegrenzt von seiner Familie fiel er Rattenfängern zum Opfer und – symptomatisch wie für das System, mit dem er sich einließ – erstickte schließlich. Seine Zweifel, ob das alles so richtig war, was er da tat, ließen ihn ja bis zum Schluss nicht los.

Sven (Pressure): Bens Vater erlebt im Roman meines Erachtens eine (Ver-)Wandlung vom Anti-Helden zum Helden. Ging es ihm zu Beginn seiner medizinischen Karriere vermutlich nur darum, durch seinen Eintritt in die SED beruflich weiterzukommen, entscheidet er sich am Ende des Romans dazu, Courage zu zeigen, indem er alles für die Versorgung eines verletzten Republikflüchtigen riskiert und dafür sogar im Gefängnis landet. Erinnert Sie diese Figur an eine real lebende Person oder steht sie stellvertretend für viele Menschen, die sich mit den Verhältnissen arrangierten, um ihr Leben möglichst problemlos leben zu können, aber im entscheidenden Moment das ethisch Richtige taten und aufbegehrten?

Niedzwetzki: Schön, dass Sie das ansprechen. Es gibt in der Tat keine bestimmte real existierende Person, die sich hinter der Figur des Dr. Ottmer verbirgt. Vielmehr ist es eine Hommage an jene, die durch Zivilcourage das Leben anderer schützten. Und von denen gab es viele in der DDR.

Sven (Pressure): Ist die Figur der US-Amerikanischen Studentin Deborah bewusst ein wenig zu überzeichnet dargestellt, wenn sie vor Ihrem viel älteren Liebhaber in Westberlin von der ostdeutschen Solidarität berichtet, die sich nicht in erster Linie an materiellen Dingen und Werten orientiert?

Niedzwetzki: Wir dürfen nicht vergessen, wie Deborah sozialisiert worden ist: im amerikanischen mittleren Westen, mit ihrem Kleinmädchentraum von ihrem Vater, den sie ja nie kennenlernte, der auszog, die Welt zu verbessern, als eine Art Che Guevara.

Also ich glaube, dass sie die Realität in der DDR tatsächlich so empfand, denn das war ja schließlich der gesellschaftspolitische Sehnsuchtsort ihres Vaters, den sie selbst zum Helden stilisierte. Manchmal sehen wir nur das, was wir sehen wollen.

Sven (Pressure): Aus heutiger Sicht fällt es manchmal schwer zu glauben, dass angesichts zahlreicher Profiteure der DDR-Bespitzelungspolitik so etwas wie eine solidarische Gemeinschaft jemals auch nur ansatzweise existiert hat. Inwieweit ist Ihres Erachtens die subjektiv gefärbte Erinnerungskultur vereinbar mit den historisch- objektiven- Fakten und wie kommt das im Roman zur Geltung?

Niedzwetzki: Ich kann die „Profiteure“ dieser Bespitzelungspolitik bis auf den heutigen Tag nicht so richtig erkennen. Vielmehr kann mir die Kaste jener Menschen, die sich mit geradezu lächerlichen Vorteilen bereichert hat, heute nur leidtun. Vergleichen wir die allumfassende Präsenz der Staatssicherheit im Leben des Ostdeutschen mal mit einer chronischen Krankheit, mit der man irgendwann beginnt zu leben, ohne jeden Tag daran denken zu wollen.

Jo bringt es schon als Abiturient auf den Punkt als er darüber nachdachte: „… offiziell war die Stasi eine Organisation zum Schutz des Staates, genauso wie die Volkspolizei zum Schutz der Bürger. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Und er wollte es auch nicht, weil es ihn nicht betraf …“. Also eine Art Selbstschutz, geradezu symptomatisch.

Sven (Pressure): Mehr als 30 Jahre nach dem Fall der Mauer ist das Misstrauen zwischen Ost- und Westdeutschen in manchen Bereichen noch immer zu spüren. Was müsste Ihres Erachtens geschehen, dass es in Zukunft ein besseres Miteinander auf Augenhöhe geben kann und die Mauer in den Köpfen endlich fällt?

Niedzwetzki: Da fällt mir ad hoc einiges ein: gleiches Rentenniveau z. B., gleiche Löhne. Das wäre zumindest die materialisierte Wertschätzung der Lebensleistung vieler, die in dem anderen System genauso hart gearbeitet haben wie Westdeutsche. Und dann wäre da noch eine differenziertere Darstellung des Lebens im Osten: Wenn meine Kinder in der Schule lernen, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen und sonst nichts, dann ist das für mich zu kurz gesprungen.

Sven (Pressure): Wäre das dann auch hilfreich im Kampf gegen populistische Strömungen und Geschichtsverklärungen?

Niedzwetzki: Die DDR als Sehnsuchtsort hochzustilisieren ist gefährlich und ungerecht gegenüber jenen, die tatsächlich benachteiligt waren und zweifellos unter dem System litten. Als Autor versuche ich vor allem das Lebensgefühl jener Generation erlebbar zu machen, und ich hoffe damit dem Verteufeln aber auch der Glorifizierung der Verhältnisse in der DDR entgegen zu wirken.

Das Interview führte Sven Dehoust im Januar 2024

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