Dobermann und Kairos: Dennis Diel über die Gunst des Augenblicks

Es ist keine alltägliche Geschichte, die dem Protagonisten Tomas Dober in Dennis Diels neuestem Werk „Dobermann und Kairos“ widerfährt: Er kann mithilfe eines Medaillons zurück in die Vergangenheit reisen, um seine Mutter, die er nicht richtig kennengelernt hat, zu treffen.

Besonders heikel daran ist, dass die Mutter Selbstmord beging und ihre Familie mit allen Ängsten, Trauer und Schuldgefühlen zurückließ. Vor allem Tomas und seine Schwester Melissa leiden unter dem Verlust so sehr, dass Melissa schließlich ebenfalls Suizid begeht. Durch das besagte Medaillon hat Tomas endlich die Möglichkeit, die Gründe für die Selbstmorde zu erfahren. Wird er diese Option gewissenhaft nutzen oder verleitet sie ihn, Geschichte neu zu schreiben? Und wie verändert die Zeitreise das angespannte Verhältnis zwischen Tomas und seinem Vater, der nicht über seine Trauer spricht und stattdessen Halt und Trost in einer neuen Beziehung sucht

Die Antworten erfahrt ihr in „Dobermann und Kairos“. Oder auch nicht, da Dennis Diel für seinen Protagonisten Tomas das „Feld aller Möglichkeiten“ vorbereitet und ihm somit alle Handlungsoptionen ermöglicht. Danach, so scheint es, lässt er ihn selbstständig agieren und beobachtet das Geschehen (scheinbar) teilnahmslos von außen. Diese Variante des Erzählens ist zwar nicht neu, jedoch interessant, weil sie Tomas übermenschliche Fähigkeiten und gleichzeitig übermenschliche Verantwortung verleiht. Der Leser bleibt dagegen immer unwissend und oftmals ungläubig hinter Tomas nächstem Handlungsschritt zurück und stellt sich letztendlich die Frage, wie er selbst an Tomas Stelle handeln würde oder gehandelt hätte.

Interview mit Dennis Diel über die Gunst des Augenblicks

Wann und wobei hattest du zuletzt das Gefühl, im richtigen Moment die Gunst des Augenblicks- im Sinne der mythischen Gottheit des Kairos- zu nutzen?

Dennis: Schwierige Frage. Ich denke, dass einem immer mal wieder derartige Momente begegnen – vor allem beim kreativen Arbeiten passieren häufiger Dinge, die einem so vorkommen können, als ob diese besondere Chance beim Schopf gepackt werden muss. Dass man das starke Gefühl hat, dieser oder jener Idee nachgehen zu müssen, weil sie sonst für immer verschwunden bleibt. Und manchmal fügt sich dann alles zusammen. Beim Lottospielen konnte ich mich bislang leider noch nicht auf Kairos Stimme verlassen (lacht). Jeder von uns hat ja diese innere Stimme, die wir Intuition nennen. Ich versuche aber auch nicht krampfhaft, in alle glücklichen Fügungen das Wirken eines Gottes oder des Schicksals hineinzuinterpretieren.

Gab es für den Schreibanlass deines neuen Buchs ebenfalls diesen einen richtigen Moment?

Dennis: Nein. Ich hatte bloß nach dem Tod meines Vaters an Heiligabend 2021 den starken Wunsch, mir die Trauer von der Seele zu schreiben. Wenn man so will, war der Auslöser natürlich schon dieser konkrete Anlass …

Tomas, Protagonist von „Dobermann und Kairos“, reist mithilfe eines Medaillons zurück ins Jahr 1999 und trifft seine Mutter, die er nie richtig gekannt hat. Hast du beim Schreiben wieder etwas Neues über dich selbst kennengelernt, beispielsweise den Wunsch, genau wie Tomas die Chance zu erhalten, in der Zeit zurückzureisen?

Dennis: Ich hadere nicht mit meiner Vergangenheit oder mit scheinbar falschen Entscheidungen. Davon gab es eine ganze Reihe in meinem Leben, und wenn ich jeder verpassten Chance nachtrauern würde, käme ich aus dem Heulen nicht mehr raus. Ich habe zahllose geile Momente verpasst, weil ich krank gewesen bin; Erlebnisse, für die andere vermutlich alles in Bewegung setzen würden.

Ich habe viel zu lange an Problemen laboriert, die mit mehr Mut zur Selbsthilfe schon viel früher hätten gelöst werden können. Aber so ist das Leben, zumindest meins. Um deine Frage konkret zu beantworten: Ich habe beim Schreiben über mich herausgefunden, dass ich mich schwertue, Enden zu verfassen (lacht). Bekäme ich die Möglichkeit, wie Tomas in die Vergangenheit zu reisen, würde ich viel Zeit mit meinem Vater verbringen wollen. Ich vermisse ihn sehr.

Tomas redet wie ein Jugendlicher des Jahres 2025, während deine eigene Jugendzeit beinahe ein Vierteljahrhundert zurückliegt. Fiel es dir schwer, dich in ihn hineinzuversetzen?

Dennis: Ich weiß nichtmal, ob mir das Channeln eines jungen Mannes, der ja zudem auch eine gänzlich andere sexuelle Orientierung hat als ich, überhaupt gelungen ist. Aber nein, schwer fiel mir das nicht.

Birgt nicht jede Zeitreise die Gefahr, die Dinge in der Vergangenheit so ändern zu wollen, dass sie kurzfristig für eine Befriedigung der eigenen Wünsche sorgen, langfristig jedoch unvorhersehbare Auswirkungen haben? Wie geht Tomas mit dieser großen Verantwortung im Buch um und wie würde Dennis Diel damit umgehen?

Dennis: Tomas macht sich darüber keine Gedanken. Es bleibt ja auch scheinbar unklar, ob es sich um eine Zeitreise im „klassischen“ – Back to the Future – Sinne, um parallele Universen oder Einbildung handelt. Ich habe dafür meine Auflösung, aber mich würde natürlich brennend die Interpretation der Leser interessieren. Tomas ist jedenfalls von diesen Erfahrungen überrumpelt und nicht der Typ, der sich Gedanken über eine mögliche negative Wellenbewegung in der Zukunft macht. Was auch verständlich ist, denn sein Begehren ist ein zutiefst menschliches. Er will seiner toten Mutter begegnen und ihr sagen, dass er sie liebt und vermisst. Mehr nicht. Ich glaube, ich würde für diese einzigartige Chance auch den Schmetterlingseffekt oder das Großvater-Paradoxon in Kauf nehmen (lacht).

Was spricht deiner Meinung nach dafür, dass Tomas durch die Zeitreise seinen inneren Frieden mit seiner Familie findet und wie erging es dir selbst nach dem Schreibprozess?

Dennis: Mir ging es nach dem Schreiben gut, wenngleich sich die Arbeit schier unendlich zu ziehen schien. Fast drei Jahre habe ich schlussendlich für die paar Seiten gebraucht, habe zig Enden geschrieben und wieder verworfen … Um ehrlich zu sein, habe ich schon ziemlich Nerven lassen müssen. Dazu kam ein längerer Krankenhausaufenthalt meiner Mutter kurz vor Abgabe des Manuskripts, der alles auf den Kopf gestellt hat und wo es lange Zeit fraglich war, ob sie überhaupt überlebt. Auch diese Erfahrungen, die wieder kurz vor Weihnachten stattfanden, haben das Endergebnis geprägt.

Ob Tomas seinen inneren Frieden gefunden hat?
Ich verrate mal ganz keck: Das wissen wir noch nicht, und die Beantwortung dieser Frage wird sicher Gegenstand der Handlung eines zweiten Teils werden. Meine Interpretation des Textes ist, Achtung, Spoiler:

Tomas hat am Ende noch nicht gefunden, was er gesucht hat. Deshalb will er zurück. Nochmal mit Franziska sprechen. Er begreift aber auch nicht, dass sich seit dem Moment des Tragens des Amuletts seine Realität zerfasert und aufweicht. Sie verschmilzt buchstäblich mit dem Universum, in dem seine Mutter lebt und indem es erst 1999 ist. Und als er wieder in die Parallelwelt reist, ist 2009. Es gibt zig kleine, subtile scheinbare Fehler im Text, die aber alle andeuten, dass hier eine größere Macht am Werke ist.

Du sagtest beim letzten Interview mit dem Pressure-Magazine, dass deine familiäre Situation in der Kindheit schwierig gewesen sei und u.a. die Onkelz und ihre Lieder Halt und Geborgenheit gaben, später dann auch deine heutige Frau. Kannst du durch das Schreiben so zu dir selbst finden, dass du mittlerweile selbst in dir ruhen und Halt geben kannst kannst und du dir so deine Resilienz für „harte Zeiten“ antrainierst ?

Dennis: Ich glaube schon. Es gab ja seit unserem letzten Gespräch jede Menge negativer Ereignisse in meinem Leben, mit denen ich umgehen musste. An manchen von ihnen hätte man sicher auch zerbrechen können. Dass ich stehe, dass ich glücklich bin und zuversichtlich in die Zukunft gucken kann, ist sicher auch meinem eigenen Management mit komplexen Herausforderungen geschuldet. Ich kenne meine Muster.

Das Interview mit Dennis Diel führte Sveni im Mai 2025 für Pressure Magazine

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