Totensonntag, 24. November: Ein Blick auf den Klub 27
An einem Tag wie dem Totensonntag lohnt es sich, innezuhalten und über das Phänomen des „Klub 27“ nachzudenken. Diese Künstler:innen waren nicht nur Musiker:innen – sie waren Spiegelbilder ihrer Zeit, ihrer Hoffnungen und Ängste. Kurt Cobain, mit seiner rohen Ehrlichkeit und seiner inneren Zerrissenheit, steht in dieser Reihe wie kein anderer für die Widersprüche des Ruhms.
Cobains Tod war ein Schock, aber er war auch das tragische Ende einer Spirale, die viele hatten kommen sehen. Mit nur 27 Jahren trat er dem berüchtigten „Klub 27“ bei – jener illustren Gruppe von Künstler:innen wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und Amy Winehouse, die alle im gleichen Alter starben. Doch Cobain unterscheidet sich von ihnen: Während die meisten durch Überdosen oder Unfälle starben, nahm er sein Schicksal selbst in die Hand. Sein Selbstmord – eine Mischung aus Überdosis Heroin und einem Kopfschuss – bleibt eines der düstersten Kapitel der Rockgeschichte.
Es ist kaum zu glauben, dass bereits drei Jahrzehnte vergangen sind, seit Kurt Cobain, die Stimme einer ganzen Generation, uns verlassen hat. Am 5. April 1994 endete das Leben eines Mannes, der für viele nicht nur Musiker, sondern auch Symbol für Auflehnung, Verletzlichkeit und Authentizität war. In den frühen 90er Jahren dominierten Nirvana die Playlists von MTV und die Tanzflächen alternativer Clubs weltweit.
Ein Leben zwischen Kult und Tragik
Ich erinnere mich noch lebhaft an die ersten Takte von Smells Like Teen Spirit, die wie ein Weckruf in den trüben Alltag schossen. Grunge war mehr als Musik – es war ein Lebensgefühl. Die raue Ehrlichkeit, die Nirvana ausstrahlte, traf uns mitten ins Herz. Doch während wir zu Cobains verzerrten Akkorden tanzten, war uns kaum bewusst, dass dieser Ruhm für ihn eine Last war, die er letztlich nicht tragen konnte.
Kurt Cobain, geboren 1967 in Aberdeen, Washington, wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Seine Kindheit war geprägt von familiären Zerwürfnissen, eine Zerrissenheit, die später in seinen Texten immer wieder zum Ausdruck kam. Mit Nevermind gelang Nirvana 1991 der Durchbruch, und plötzlich fand sich Cobain im grellen Rampenlicht der Musikindustrie wieder – ein Ort, an dem er nie sein wollte. Er war ein Antiheld, ein Symbol für diejenigen, die sich nicht einfügen konnten oder wollten. Doch der Druck, der mit diesem Status einherging, führte dazu, dass er sich immer mehr in Drogen flüchtete.
Der Kult um Kurt
Cobains Tod markierte den Beginn eines beispiellosen Kults. Seine Witwe Courtney Love, die eine umstrittene Figur im Nirvana-Universum bleibt, bewahrte seine Asche jahrelang in einer rosafarbenen Handtasche auf, bevor diese bei einem Einbruch gestohlen wurde. Es gibt kein offizielles Grab, was Cobains Fans nicht davon abhält, Pilgerstätten zu schaffen. Sei es die Young Street Bridge in Aberdeen oder die „Kurt-Cobain-Bank“ in Seattle – überall finden sich Spuren seiner Verehrung.
Auch die kommerzielle Vermarktung Cobains hat absurde Züge angenommen. Seine grüne Strickjacke von MTV Unplugged wurde 2019 für über 300.000 Dollar versteigert, seine zerschmetterte Gitarre ging für knapp 600.000 US-Dollar über den Tisch und sogar Haarsträhnen des Musikers wechselten für mehrere Tausend Dollar den Besitzer.
Kommerz: Wie Nirvana weiterhin Geld bringt
Mit Nirvana lässt sich auch drei Jahrzehnte nach Kurt Cobains Tod noch gutes Geld verdienen. Von Crowdfunding-finanzierten Dokumentationen über Verschwörungstheorien bis hin zu inoffiziellen Biografien – das Thema Nirvana und Kurt Cobain wird ständig mit neuen Details angereichert oder durch alternative Blickwinkel infrage gestellt. Jede Neuerscheinung verspricht, unbekannte Seiten des Sängers zu beleuchten, oft jedoch mehr aus kommerziellen als aus künstlerischen Motiven.
Ein besonders lukratives Geschäft sind remasterte Alben, die mit Deluxe-Versionen vermarktet werden. Die Plattenfirmen suggerieren, dass sich Klassiker wie Nevermind durch das neue Mastering besser anhören – ein Versprechen, das nicht immer eingehalten wird. Viele Fans beklagen, dass die ursprüngliche „Laut-leise-Dynamik“, die Nirvanas Musik so einzigartig machte, konsequent „weggemastert“ wurde. Man könnte meinen, Kurt Cobain würde sich im Grab umdrehen, wenn er hören könnte, wie stark sein Werk in Richtung Massenmarkt optimiert wurde.
Doch der Streit um das Vermächtnis von Nirvana geht noch weiter. Spencer Elden, der als Baby auf dem ikonischen Cover von Nevermind abgebildet ist, hat in den letzten Jahren immer wieder Schlagzeilen gemacht. Das Bild zeigt ihn nackt unter Wasser, wie er nach einer Dollarnote an einem Angelhaken greift – eine Metapher, die die kommerzielle Verführung durch Geld karikieren sollte. Elden sieht darin jedoch Kindesausbeutung sexueller Natur und hat die verbliebenen Bandmitglieder, Kurt Cobains Witwe Courtney Love sowie den Fotografen Kirk Weddle auf Schadensersatz in Höhe von mindestens 150.000 Dollar pro Beklagtem verklagt.
Die Klage wirft der Band vor, Millionen auf Eldens Kosten verdient zu haben. Die Symbolkraft des Covers, das eine Konsumkritik darstellen sollte, ist inzwischen zum Mittelpunkt eines bizarren Rechtsstreits geworden, der auf tragische Weise die Ironie des Albums verstärkt: Eine Platte, die sich gegen Kommerz auflehnte, wird selbst zum Gegenstand des kommerziellen und rechtlichen Ausverkaufs.
Verschwörungen und Vermächtnis
Nirvana mag ein musikalisches Vermächtnis hinterlassen haben, das Generationen bewegt, doch der kommerzielle Zirkus um die Band zeigt, wie leicht selbst die authentischsten Kunstwerke von der Realität des Marktes vereinnahmt werden können.
Cobains Tod bleibt bis heute Gegenstand von Verschwörungstheorien. Einige behaupten, Kurt Cobain sei ermordet worden – eine Theorie, die sogar von seiner Heimatstadt Aberdeen und deren Bürgermeister diskutiert wurde. Doch unabhängig von solchen Spekulationen bleibt Cobains wahres Vermächtnis seine Musik. Songs wie Come As You Are und Lithiumsprechen Generationen von Teenagern an, die sich verloren fühlen und in seiner Musik Trost finden.
Es ist erstaunlich, wie zeitlos Nirvanas Musik geblieben ist. Selbst heute werden ihre Songs millionenfach gestreamt, und Cobains Einfluss ist in der Popkultur allgegenwärtig. Doch während viele ihn als Ikone feiern, bleibt er für seine engsten Vertrauten eine Erinnerung an einen Mann, der einfach nur Frieden suchte.
Heute wäre Kurt Cobain Großvater.
Seine Tochter Frances Bean Cobain hat kürzlich einen Sohn bekommen. Ein neues Leben, das zeigt, dass selbst nach den dunkelsten Zeiten etwas Neues entstehen kann. Vielleicht ist das die größte Lektion, die uns Kurt hinterlassen hat: Aus Schmerz kann Kunst entstehen, und aus Kunst kann Trost werden.
Ruhe in Frieden, Kurt. Du fehlst.
Text von Marcus Liprecht
Triggerwarnung: Wer selbst unter Depressionen leidet oder jemanden im Umfeld kennt, der Hilfe benötigt, kann sich an die Telefonseelsorge (0800 111 0 111) oder die Deutsche Depressionshilfe (0800 33 44 533) wenden.
Weiterführende Links:
- Kurt Cobain – Wikipedia
- Kurt Cobain, das ROLLING-STONE-Interview 1994: „Erfolg ist nicht …“
- Nirvana: Das ist die tragische Biographie von Kurt Cobain – Rolling Stone
- Kurt Cobain – laut.de – Band