Till Lindemann: Zunge (2025) Re-Release im Stresstest

Neuauflage mit neun Bonustracks, Knast-Ästhetik und neuem Video. Zwischen Kunstfreiheit und Verantwortung: Wie viel Provokation trägt 2025?

Ein „Mugshot“ als Wegweiser: Hosenträger, blaues Auge, Knastschild – Lindemann posiert zur Wiederveröffentlichung von „Zunge“ wie der Pop-Paria im Fahndungsalbum. Man weiß sofort, wohin die Reise geht: zurück in jene Grenzzonen, in denen Inszenierung und Reizüberflutung seit Jahren sein Treibstoff sind. 2025 wirkt dieser Gestus allerdings weniger wie Tabubruch, mehr wie Stresstest: Was hält noch, wenn die gesellschaftlichen Platten sich verschoben haben?

Zunge“ erschien ursprünglich im November 2023, jetzt kommt „Zunge 2025“ als Deluxe-Paket: neun Bonustracks, darunter drei bislang unveröffentlichte Songs. Nach den Singles „Meine Welt“ und „Und die Engel singen“ legte Lindemann Anfang Oktober das Video zu „Prostitution nach – eine weitere, bewusst verstörende Bildarbeit von Regisseur Serghey Grey. Parallel meldete der Künstler personelle Rotation: Gitarristin Jessica Ruestow ist raus, Dani Sophia übernimmt. Die Neuauflage erscheint als üppige Box (u. a. mit 3D-„Fleisch“-Dekokissen), diverse Vinyl-Varianten inklusive. Die Botschaft: größer, teurer, sichtbarer – Provokation als Produktlinie.

Musikalisch bleibt „Zunge“ das, was Lindemann-Solo seit jeher sein will: Industrial-getränkter Breitwand-Pop mit Märschen, Bombast, Sägezahnsynths – und deutschsprachiger Lyrik zwischen Galgenhumor, Derbheiten und fatalistischer Weltbeobachtung. Der Titelsong tönt heute wie ein Kommentar zum öffentlichen Klima: „Meine Zunge ist gefangen“ (Liedtext: „Zunge“) – die Pose des Missverstandenen, kunstvoll verdichtet.

Tabubruch oder Stresstest?

Inhaltlich führt „Zunge“ die alten Spannungen fort: frivole Späße und Körperkabinett („Nass“, „Schweiß“) neben morbidem Tiefgang. Gerade wenn Lindemann den Voyeur im Text abzieht, entlarvt er die Mechanik der Begierde – um sie im nächsten Moment wieder zu bedienen. 2025 ist das nicht mehr unschuldig zu haben: Nach Debatten um Machtgefälle, Konsens und Sexualisierung bleibt die Frage, ob der Schockreiz hier aufklärt oder nur einsammelt. Das neue „Prostitution“-Video reiht sich ein: ästhetisch scharf, moralisch kalkuliert – Grenzgänger oder Grenzverwerter?

Die Reissue-Strategie samt Knast-Look spielt bewusst mit dem Stigma des Ausgeschlossenen. Als Kommentar auf das Medienspektakel clever – als Selbstviktimisierung riskant. Provokation taugt, wenn sie Verhältnisse anbohrt. Wird sie zur Staffage, wirkt sie wie Doping: kurzfristiger Kick, langfristige Abstumpfung.

Song-Highlights

  • „Sport frei“ – bissige, fast philosophische Systemkritik mit DDR-Anklängen; rhythmisch stramm, textlich genauer als vieles Drumherum.
  • „Altes Fleisch“ – Selbstbetrachtung im Spiegel, bitter und menschlich; Lindemann als Moritatensänger des Verfalls.
  • „Übers Meer“ / „Du hast kein Herz“ – Balladen-Doppel, das die Todesahnung weiterzieht; Pathos ja, aber effektiv.
  • „Alles für die Kinder“ – gruselig gut, weil Sound und Sujet schmerzhaft greifen.
  • „Lecker“ / „Selbst verliebt“ (Hidden-Song-Schlagerparodie) – als Satire lesbar, musikalisch jedoch die schwächere Kost; der Nachgeschmack bleibt.

Provokation 2025: Zwischen Anspruch und Abnutzung

Die Fanbase ist gespalten zwischen Devotion und Dosissteigerung. Kommentare im Netz fordern schon das nächste Nackt- oder Porno-Video – als sei Eskalation der natürliche Aggregatzustand dieser Kunst. Genau hier liegt das Problem: Wenn Provokation zum Abo-Modell wird, verkommt sie zur Dienstleistung.

Journalistisch betrachtet: Die Lust am Grenzgang entbindet weder Künstler noch Publikum von Reflexion. Wer sexistische Motive ironisch „spielt“, muss die Ironie markieren und riskante Tropen nicht nur enterben, sondern umcodieren. Gelingt das hier? Teilweise. Oft ist der Subtext doppeldeutig – in guten Momenten produktiv, in schlechten affirmativ.

Fazit

„Zunge 2025“ ist musikalisch solide bis stark, wenn Lindemann den Zynismus zügelt und die Figur zum Erzähler macht. Die Reissue mit Bonus-Material liefert Futter für Sammler und eine Handvoll wirklich gelungener Momente. Doch die Dauerprovokation wirkt abgenutzt wie ein Bühnentrick, der zu oft gezündet wurde. Kunstfreiheit ist kein Freibrief fürs Wegschauen – und Publikumslust kein Argument fürs Immer-Mehr. Oder, um ein deutsches Sprichwort zu bemühen: Nicht jede Wurst gehört auf den Grill.

Album Review von Marcus Liprecht

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ZUNGE – Album Trackliste:

  1. Zunge
  2. Sport frei
  3. Altes Fleisch
  4. Übers Meer
  5. Du hast kein Herz
  6. Tanzlehrerin
  7. Ich hasse Kinder
  8. Nass
  9. Alles für die Kinder
  10. Schweiss
  11. Lecker
  12. Selbst verliebt

BONUS Songs:

  1. Prostitution
  2. Und die Engel singen
  3. Meine Welt
  4. Entre dos tierras
  5. Und die Engel singen – SWARM Remix
  6. Meine Welt – Weltuntergang Remix by Aesthetic Perfection
  7. Und die Engel singen – Alas Caidas Remix by Hocico
  8. Übers Meer – Piano Version
  9. Lolipop

 LINDEMANN Live-Termine:

29.10.2025, QUARTERBACK Immobilien Arena, Leipzig, DE

 31.10.2025, Ziggo Dome, Amsterdam, NL

 02.11.2025, Sportpaleis, Antwerp, BE

 06.11.2025, Festhalle, Frankfurt, DE

 08.11.2025, Westfalenhalle, Dortmund, DE

 10.11.2025, Messe Dresden, Dresden, DE

 13.11.2025, Sant Jordi Club, Barcelona, ES

 15.11.2025, Palacio Vistalegre, Madrid, ES

 20.11.2025, Adidas Arena, Paris, FR

 21.11.2025, PSD BANK DOME, Dusseldorf, DE

 23.11.2025, Barclays Arena, Hamburg, DE

 25.11.2025, Olympiahalle, Munich, DE

 27.11.2025, Arena NÜRNBERGER Versicherung, Nuremberg, DE

 29.11.2025, Wiener Stadthalle, Vienna, AT

 01.12.2025, TAURON Arena, Krakow, PL

 02.12.2025, MVM Dome, Budapest, HU

 04.12.2025, ROMEXPO, Bukarest, RO

 06.12.2025, Ülker Sports Arena, Istanbul, TR

 08.12.2025, Arena 8888, Sofia, BG

 10.12.2025, Arena, Zagreb, HR

 12.12.2025, Alcatraz, Milan, IT

 14.12.2025, Hallenstadion, Zurich, CH

 16.12.2025, Hanns-Martin-Schleyer-Halle, Stuttgart, DE

 18.12.2025, O2 Arena, Prague, CZ

 >> Tickets www.till-lindemann.com

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