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In Bayern läutet der traditionelle Fassbieranstich zum Münchner Oktoberfest ein. Alljährlich werden auch diesmal Sanitäter, Organisatoren und Polizeisprecher Stellung zu stark alkoholisierten Wiesn-Besuchern beziehen müssen. Anlässlich diesen Themas hat sich Tobias Freiwald für Pressure Magazine Gedanken über den „Umgang mit Alkohol“ gemacht…

Ein Imageproblem, mehr nicht. Schlagzeilen über verantwortungslose Jugendliche, stillose Flatrate-Parties und schwerkranke Abhängige prägen das öffentliche Meinungsbild von Alkohol. In Zeiten fernöstlicher Yogakurse und ganzheitlicher Gesundheitstherapien in Hochglanzmagazinen befinden sich traditionelle Begleiter wie Bier und Schnaps in einer tiefen gesellschaftlichen Anerkennungskrise. Höchste Zeit, die Verhältnisse zu korrigieren. Zeit für eine neue Vorreiterschaft der Trinkkultur.

Der Weg ist weit, aber er ist alternativlos. Immerhin verfügt Alkohol über das weltweit vielleicht einmalige Potenzial, sowohl auf der individuellen als auch auf der globalen Ebene tiefgreifende und tragfähige Veränderungen zu bewirken. Change. Was nach naiver Glorifizierung klingt, ist längst wissenschaftlich belegt und einer der Hauptgründe für den Jahrhunderte andauernden Erfolg des berauschenden Getränks. Sei es der in Deutschland durchaus willkommene Geburtenboom etwa neun Monate nach trinkfreudigen Ereignissen wie der Fussball-WM 2006 oder alljährlich nach Fastnacht in Hochburgen wie Mainz und Düsseldorf. Sei es auch die nur schwer messbare Zahl nachhaltiger und glücklicher Beziehungen von Menschen, die sich ohne Alkohol nie mehr als einen müden Blick auf dem Gehweg zugestanden hätten. Oder sei es das kreative Potenzial, das schon seit lange vor dem Mittelalter bekannte und unbekannte Künstler gleichermaßen zu den erstaunlichsten Schöpfungen ermutigt und inspiriert: Der durch Trinkkonsum ausgelöste Sozialhedonismus ist ein traditioneller und signifikanter Eckpfeiler unserer Kultur. Begegnet ihm endlich mit etwas mehr Respekt!

Respekt ist der Grundstein, Respekt trotz der Schattenseiten.

Nach Schätzungen der Drogenbeauftragten der Bundesregierung sterben in Deutschland jährlich 73.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholmissbrauchs. Diese Zahl ist dramatisch, die Dunkelziffer dürfte sogar noch deutlich höher liegen. Alkoholabhängigen gebührt jede nötige Unterstützung, professionelle Hilfe auf diesem Gebiet verdient ein Höchstmaß an Anerkennung und Respekt. Allerdings besteht eine ordentliche Diskrepanz zwischen eben diesem Missbrauch und dem Alkoholgebrauch, ähnlich dem Unterschied zwischen Missbrauch und Gebrauch von Küchenmessern, von Kettensägen oder Informationstechnologie. Und richtig eingesetzt, wer möchte das bezweifeln, kann Alkohol zu einem Werkzeug von unermesslicher inter- und intraindividueller Bedeutung heranwachsen.

Vor wenigen Wochen prophezeite die FAZ nach dem bundesweit immer strikter werdenden Rauchverbot als nächsten Schritt das gesellschaftliche Ende des Alkohols. “Es gab Zeiten, da war die Cognacflasche im Büroschrank so selbstverständlich wie ein Aktenordner. Heute wäre sie ein Kündigungsgrund.” Diese These, so nahe sie auch liegt, übersieht eben dieses Potenzial als lebensbegleitendes Werkzeug. Denn gegenüber anderen bewusstseinsbeeinflussenden Substanzen verfügt Alkohol über ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal: Er schreibt Geschichten.

Ob diese gut sind oder schlecht, ob sie in einem furchtbaren Kater am nächsten Morgen oder eng an der Seite der potenziellen Geliebten enden, das vermag kein Drink dieser Welt zu entscheiden. Was zählt ist die Geschichte selbst. Ganze Serien von Erinnerungen in meinem Leben sind untrennbar mit Alkohol verbunden. Erzählungen zum Lachen, zum Weinen, zum Schämen und zum Bewundern. Geschichten, die ich nie wieder vermissen will – selbst wenn sie oft nur noch verschwommen im Gedächtnis torkeln und sich gerade so an der nächstbesten Gehirnzelle festklammern. Keine qualmende Zigarette, kein einschläferndes Marihuana und keine Plantagenprodukte aus dem afghanischen Hochland kommen dieser fundamentalen Bedeutung nahe.

Dieser drastische Unterschied macht auch den Vergleich von Alkohol mit beliebigen anderen Suchtmitteln so überflüssig. Die tiefgreifende Bedeutung von Bars und Drinks müssen ebenso in jede politische Diskussion um Alkohol einbezogen werden wie die jahrhundertelange, generationenübergreifende Tradition von Herstellung und Konsum des flüssigen Goldes. Ein Wirtschaftszweig, der eben nicht nur auf Profit über Gesundheit ausgelegt ist wie die Zigarettenindustrie. Stattdessen ein Wirtschaftszweig, der Geschichten produziert.

Avantgarde statt Patient, Alkoholist statt Alkoholiker

Natürlich, der Grat ist schmal. Sehr schmal. Aber zur Debatte steht nicht das letzte Bier in der Bar, das zum gewalttätigen Ausrasten des Gastes führte. Zur Diskussion steht auch nicht das Erbrochene, das jeden Montag Morgen die Bahnsteige und Partymeilen der Nation bedeckt wie Maulwurfhügel eine grüne Wiese. Dies sind lediglich verachtenswerte und überflüssige Symptome einzelner, verantwortungsloser Konsumenten – die Drängler auf der Autobahn, die fälschlicherweise ihr Werkzeug zu beherrschen glauben. Bilder, die der Bedeutung des Alkohols gerecht werden, sind andere: Der Geschäftsmann, der nach Feierabend in der Hamburger S-Bahn musikliebend sein Astra aus der Flasche genießt. Die Eckkneipe, in der man auch nach vielen Jahren immer wieder gerne bei einem Steinkrug Apfelwein mit Freunden Geburtstag feiert. Oder die Flasche Rotwein, getrunken mit der Freundin im Arm bei Käse und Baguette am Seeufer.

Diese charmanten Bilder forcieren, diese Geschichten schreiben, das muss Aufgabe einer betrunkenen Bohème sein. Avantgarde statt Patient, Alkoholist statt Alkoholiker. Niemals braune Tüten um die Flasche – immer den Wert einer nahe gelegenen Trinkhalle zu schätzen wissend. Nicht nur die Gefahren im Blick, sondern auch die Macht des Getränks. Das Imageproblem runterspülen. Arbeiten wir daran.

Text von Tobias Freiwald (http://twitter.com/guteaussicht)

 

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Foto: www.piqs.de

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