
Eine unbequeme Einordnung zum Finch „Zero-Tolerance“-Moment
Ein viraler Clip, tosender Applaus, klare Kante gegen sexuelle Belästigung: Rapper Finch ließ bei seinem Konzert in der Frankfurter Festhalle am Freitag, 10. Oktober 2025, einen mutmaßlichen Belästiger von der Security aus der Halle bringen. Medien und Social Media feiern den Auftritt als wichtiges Signal. Fakt ist: Eingreifen schützt. Punkt.
Aber reicht ein starkes Bühnen-Statement, wenn dasselbe Künstlerimage seit Jahren mit sexistischen Codes verkauft wird? Diese Frage fehlt bislang in vielen Berichten.
Der Vorfall – und warum er Beifall verdient
Die Szene ist dokumentiert. Finch stoppt die Show, adressiert den Mann, die Security begleitet ihn hinaus. Die Aufmerksamkeit kam offenbar durch ein Handzeichen einer Frau aus dem Publikum. Das ist richtig, wichtig und sollte Standard sein. Wer mit Reichweite Räume schafft, trägt Verantwortung, dass Fans sicher feiern können. An diesem Abend hat Finch sie wahrgenommen.
Branchenecho: Zwischen „bare minimum“ und Abwehrreflex
In der Musikszene fallen die Reaktionen scharf aus – und zeigen, wie aufgeladen das Thema ist.
- Jennifer Weist kritisierte auf Instagram die öffentliche Heldenverehrung für den Clip. Sinngemäß schrieb sie: „Ja ey, lasst uns doch weiterhin Männer für bare minimum Moves feiern, während sie gleichzeitig gegen Frauen hetzen und misogyne Narrative reproduzieren, weil Systemkritik ihren Horizont übersteigt.“ (Bezug: ihr öffentlicher Instagram Account.)
- Finch konterte kurz darauf auf seinem Kanal in zynischem Ton. Er postete eine Grafik mit einem fluchenden Kobold und wetterte gegen ein „männerhassendes Wesen aus Berlin“ (Zitat), das sich mangels Relevanz profilieren wolle – erkennbar als Seitenhieb auf die Kritik von Jennifer Weist aus Berlin. (Bezug: sein öffentlicher Instagram Account)
Die Kommentarspalten brennen. Die Fronten verlaufen entlang einer alten Bruchlinie: Ist sichtbares Eingreifen bereits Kulturwandel – oder nur das Mindestmaß, solange misogyne Codes in Songs, Ästhetik und Bühnenansprachen seitens Finch weiterlaufen?
Der blinde Fleck in der Berichterstattung
Dass Finch für sein Eingreifen gefeiert wird, ist nachvollziehbar. Was in vielen Meldungen aber fehlt: die notwendige Kontextualisierung seiner eigenen Ästhetik und Texte. Finch – früher „Finch Asozial“ – wurde nicht zufällig von Frauenrechtsorganisationen wegen frauenfeindlicher Inhalte kritisiert. 2020 war er prominenter Aufhänger der Kampagne #UNHATEWOMEN; es kam damals auch zu Anfeindungen gegen die Initiatorinnen. Das ist nicht „irgendwann mal“ passiert, sondern Teil seiner öffentlichen Geschichte.
Was in den Songs steht
Beispiele gibt es genug. In „Sex & Gewalt“ finden sich Zeilen wie: „Du bist ’ne …, die nach zwei Bier schon auf der Theke tanzt … Eine Frau bleibt auf Ewigkeit ein Gegenstand.“ Solche Passagen sind keine Randnotiz, sondern prägen die Bühnenfigur und das Publikum, das sie konsumiert. Wer das aktuelle Handeln bewerten will, muss es an diesem Fundus messen und die Augen nicht vor weiteren Songtexte verschließen:
- „Fick mich Finch“
Beispielzeilen: „Ey, Fotze, zeig dein’ Arsch … Ich liebe meine kleine Slut.“ Deutlich sexualisierend, entwürdigend, Gewalt-Fantasien werden angedeutet. (Quelle: Shazam) - „Sex & Gewalt“ (feat. MC Bomber)
Beispielzeilen (Übersetzungsauszug): „Ey, du Schlampe … Groupies lutschen meinen Schwanz.“ Offene Herabwürdigung von Frauen, Verknüpfung mit Drogen/Exzess. (Quelle: Genius.com) - „Ohne Kondom“ (feat. MC Bomber)
Beispielrefrain: „Sex mit ’nem perversen Schwein – ohne Kondom … Fick das Herzilein im Perlenkleid. / Du kommst mit political correct, ich bin ’ne kranke Fotze … Dermaßen politisch unkorrekt, dass ich selbst Transen box“ Pornografisch-derb, Frauen werden zum Objekt. (Quelle: Genius.com) - „Der letzte echte Macho“ (feat. Big Mike)
Beispielzeilen: „Weil du nicht im Stehen pissen kannst … überall nur Gender-Wahn … volle Ladung Testosteron.“ Glorifizierung eines Macho-Ideals, Abwertung „weibischer“ Codes. (Quelle: Genius.com)
Terre des Femmes ordnet Finchs Repertoire seit Jahren als frauenfeindlich ein; „Richtig saufen“ und „Sex & Gewalt“ werden explizit genannt. 2021 erschien zudem eine neue Version von „Fick mich Finch“, in der Stellen mit sexualisierter Gewalt ersetzt wurden. Das zeigt zwar die Debatte und die Reaktion des Künstlers, aber unzählige weitere Werte sind weiterhin in Originalfassung abrufbar. (Quelle: Wikipedia)
Warum dieser Kontext wichtig ist:
Diese Textstellen bedienen exakt jene Codes, die jetzt mit dem Frankfurt-Clip in Spannung stehen. Das Publikum wird jahrelang mit sexualisierten, herabwürdigenden Erzählungen sozialisiert. Wenn derselbe Künstler dann „Zero Tolerance“ auf der Bühne zeigt, ist das richtig – aber die Glaubwürdigkeit misst sich daran, ob solche Passagen künftig verschwinden, ob Ansagen auf Tour Grenzen klarziehen und ob es eine erkennbare Kurskorrektur gibt. Ohne das bleibt es schnell beim „bare minimum“-Moment, den Teile der Musik-Branche (z. B. Jennifer Weist) und auch Teile seines Publikum kritisieren.
Ballermann, Bierzelt, Bühnenfigur
Finch bespielt bewusst Umfelder, in denen derb, doppeldeutig und sexualisiert performt wird. Das ist sein Markenkern. Genau deshalb wirkt der Kontrast zwischen harter „No-Go“-Ansage im Saal und kalkuliert sexualisierter Rebellion im Repertoire so groß. Man kann beides trennen – Kunstfigur vs. Privatperson – oder eben nicht. Entscheidend ist: Welche Codes sendet der Künstler insgesamt an die Crowd, die er selbst sozialisiert? Diese Debatte bleibt bisher zu kurz.
Drei mögliche Lesarten seines Auftritts
- Echte Weiterentwicklung. Menschen ändern sich. Wer live konsequent schützt, kann parallel Texte und Bühnenansprachen überprüfen. Dann müsste das aber folgen: klare Statements zur eigenen Diskografie, veränderte Setlists, keine Herabwürdigungen mehr.
- On-Stage-Safety als Mindeststandard. Sicherheitslogik ohne Wertewandel: Übergriffe fliegen raus, die Show bleibt ansonsten wie gehabt. Das schützt im Moment, ändert aber wenig an der Kultur.
- Performative Kante. Ein starker viraler Moment als Teil einer Imagekorrektur. Möglich, aber auf Dauer nur glaubwürdig, wenn off-stage und in den Songs etwas nachkommt.
Was jetzt an fairer Messlatte gilt
Medien sollten beides abbilden: das richtige Eingreifen und die problematischen Lyrics der Vergangenheit. Nur so entsteht ein realistisches Bild. Finch selbst hätte es in der Hand, den „Frankfurt-Moment“ zum Wendepunkt zu machen:
- Klare Policy auf Tour. Sichtbar kommunizierte Anti-Belästigungsregeln, geschultes Personal, niedrigschwellige Meldewege im Pit.
- Kontext vor Hits. Ansagen auf der Bühne, die Grenzen benennen – auch gegenüber der eigenen Fanbase.
- Repertoire prüfen. Sexistische Passagen streichen oder umschreiben. Das wäre das deutlichste Zeichen, dass Safety mehr ist als ein Einzelfall.
- Dialog statt Abwehr. Ein öffentliches Gespräch mit Kritikerinnen wie TERRE DES FEMMES – ohne das gewohnte „Ist doch nur Kunst“-Reflex. Quelle: frauenrechte.de
Die zugespitzte Frage
Kann man Finch den Auftritt in Frankfurt abnehmen? Ja – als konkretes, richtiges Handeln in einer konkreten Situation. Gilt er damit automatisch als glaubwürdiger Antisexismus-Akteur? Noch nicht. Ein Antisexismus-Akteur wird daraus nicht automatisch. Glaubwürdigkeit entsteht nicht im 30-Sekunden-Clip, sondern in den Monaten danach. Wer jahrelang mit sexistischen Codes Kapital und Zielgruppen aufgebaut hat, muss mehr liefern als den einmaligen Rausschmiss. Erst wenn das Bühnenbild, die Ansagen und die Texte konsequent anschlussfähig an die Botschaft „Sichere Räume für alle“ werden, kippt die Bilanz.
Bis dahin sollten Medien weniger Heldengeschichten schreiben – und mehr vollständige Geschichten.
Transparenzhinweis: Die zitierten Instagram-Positionen beziehen sich auf öffentliche Accounts/Posts; Stories und Captions können sich ändern oder nachträglich verschwinden.
Teaser Foto: YouTube / Offizielles Finch Musikvideo



























