Der Dichter und der Neonazi: Erich Fried und Michael Kühnen

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Manchmal beinhaltet die Realität mehr unrealistische Elemente als die Fiktion. So auch in diesem Buch von Thomas Wagner, der sich auf die Spuren einer „deutschen Freundschaft“ zwischen Erich Fried und Michael Kühnen begibt.

Sie beginnt 1983 mit der Ausladung des Neonazis Kühnen aus einer Talkshow, in der u.a. auch der Antifaschist Fried zu Gast war. Ausgerechnet Fried, dessen Großmutter in Auschwitz ermordet wurde und der selbst im Dritten Reich nach England emigrierte, beschwerte sich über das undemokratische Verhalten der Verantwortlichen des Fernsehsenders.

Es folgte ein jahrelanger Briefwechsel zwischen den beiden Männern, in dem sie trotz unterschiedlicher Überzeugungen stets den Respekt für den Gegenüber betonten. Für Fried blieb Kühnen trotz seiner Holocaustleugnung ein Mensch, der genau wie er lachte, weinte und Gefühle besaß und damit das Recht auf einen mitmenschlichen, respektvollen Umgang wie jeder andere auch hatte. Ob Fried dabei wirklich glaubte, mit der Macht seiner Argumente Kühnen umstimmen oder bekehren zu können, darf bezweifelt werden. Ganz ohne Ambitionen und egoistische Motive war er aber vermutlich nicht, da er bereits im Dritten Reich selbst erlebte, wie leicht sich freundliche Mitschüler innerhalb kürzester Zeit in der HJ politisch engagierten. Dabei fragte er sich, ob auch er- bei anderen Ausgangsvoraussetzungen- „mitgemacht“ hätte. Er konnte die Frage für sich ein Leben lang nicht wirklich verneinen.

Kühnen wiederum muss das rebellische Verhalten Frieds gegenüber dem politischen Mainstream imponiert haben. Als dann der Dichter sogar anbot, für den Neonazi vor Gericht auszusagen, um dessen Haftstrafe zu reduzieren, war das ein weiterer Freundschaftsbeweis, der über eine- lediglich einstudierte- Freundlichkeit Frieds hinausging.

Fazit: Mensch bleibt Mensch, auch wenn es Exemplare wie Kühnen gibt, deren Ideen und Überzeugungen bis ins Unerträgliche gehen. Diese Menschen sollten dennoch das Recht haben, dass man sie als Mitmenschen behandelt und ihre Grundrecht auf Meinungsfreiheit respektiert. Das ist hart. Und das ist angesichts von rechtspopulistischen Tendenzen und Äußerungen -auch im engsten Familienkreis- eine echte Herausforderung für viele von uns, der wir uns stellen sollten. Für uns selbst und für unsere liberale Demokratie. 

Buchkritik von Sveni

Tobias Wagner: Der Dichter und der Neonazi: Erich Fried und Michael Kühnen – eine deutsche Freundschaft

  • Herausgeber: ‎ Klett-Cotta; 1. Aufl. 2021 Edition (20. Januar 2021)
  • Sprache: ‎ Deutsch
  • Gebundene Ausgabe: ‎ 176 Seiten
  • ISBN-10: ‎ 3608983570
  • ISBN-13: ‎ 978-3608983579

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